Kurier 16.05.2018

Erschreckend (brand)aktuelle Worte  

Im Rahmen des internationalen Theaterfestival „Visual", das Gehörlose einschließt, spielte ein Profi-Duo „Verweigert den Krieg!“

„Freunde“, heißt es, „Arbeitskollegen, Patrioten, euer Land ist in Gefahr! An allen Ecken und Enden sind Feinde um uns herum. ... Stoppt euer Jammern, seid bereit und bereitet euch darauf vor, eure Heime und unsere Fahne zu verteidigen. Baut eine Armee, eine Marine; seid bereit, um den Eindringlingen zu begegnen als freie loyal gesinnte Menschen.“

Klingt vielleicht von der einen oder anderen Formulierung her ein wenig antiquiert, kommt aber so unbekannt nicht vor, oder?! Ist aber 102 Jahre alt und stammt aus der bewegenden und berührenden Rede „Verweigert den Krieg!“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller. Mit eineinhalb Jahren erblindet und gehörlos geworden, konnte sie dank eisernem Willen und entsprechender Förderung studieren, erlernte sogar mehrere Fremdsprachen.

Nichts sehen, nichts hören, viel spüren

So wie in „Talking Gloves“ (Sprechende Handschuhe) einer der Jugendlichen Darsteller mit Bandagen eingewickelt und für die Dauer der Vorstellung im Rahmen des Festivals „Visual“ gleichsam blind und gehörlos gemacht wurde, so verwandelt auf offener Bühne Werner Mössler seine Kollegin Rita Hatzmannmittels Ohrstöpsel, einer Augenbinde und einer Maske in „Helen Keller“. Die US-amerikanische Schriftstellerin, deren literarisches Talent von Wilhelm Jerusalem, einem Wiener Pädagogen, Philosophen und Pazifisten entdeckt wurde, engagierte sich gegen Rassismus und Krieg. Am 5. Jänner 1916 hielt sie in der Carnegie Hall in New York eine später berühmt gewordene Rede mit dem Titel „Verweigert den Krieg!“. Damit wollte sie Entscheidungsträger_innen ihres Heimatlandes dazu bewegen, dass die USA nicht in den Krieg eintreten würde.

Das Spiel und die Sprache der für eineinviertel Stunden nichts sehenden und hörenden Schauspielerin samt dem kongenialen Spiel ihres Bühnenpartners in Gebärdensprache wird damit umso intensiver – sowohl von der Bühne her. Diese Energie überträgt sich auf das Publikum im Theater Spielraum, jener Spielstätte, in der das Festival des Vereins ARBOS seit einigen Jahren in Wien gastiert.

Briefwechsel

Jahrelang führten die beiden einen ausführlichen Briefwechsel, der durch den Eintritt der USA in den großen Krieg, später 1. Weltkrieg genannt, unterbrochen wurde. Mössler, der stark gehörbeeinträchtigt ist, schlüpft in die Rolle Jerusalems und erzählt zunächst in windeseiligster Gebärdensprache von diesem Briefwechsel. Danach tippt Hatzmann als Keller auf einer alten Kofferschreibmaschine und rezitiert passagenweise die berühmte Rede der Schriftstellerin gegen Krieg im Allgemeinen und den konkreten besonders.

Sie stellt den gesellschaftspolitischen Zusammenhang zwischen Krieg und Ausbeutung her und ruft vor allem die arbeitenden Menschen auf, nicht in die nationalistische Falle zu tappen, um sich für den Krieg einspannen zu lassen. Hat sie ein bis zwei Seiten getippt, steht sie auf, tritt vor ihr Schreibtischchen und übergibt ihrem Kollegen die Seiten, der sie nun in Gebärdensprache vorträgt – das Publikum dieses internationalen Festivals aus den USARussland und Kärnten – besteht aus Hörenden und Nicht-hörenden.

Grundsätzliche Gesellschaftskritik

Kurz streift die Schriftstellerin in ihrer Rede auch ihre Behinderung: „Um es unwiderruflich und unmissverständlich ein für alle Mal klarzustellen für jedermann, ich brauche keinerlei Mitleid. ... Mir sind Informationsquellen so gut und zuverlässig zugänglich wie jedem anderen auch. Ich habe Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften aus EnglandFrankreichDeutschland und Österreich, die ich auch selbst lesen kann. Nicht alle Herausgeber und Redakteure, die ich getroffen habe, können das von sich behaupten.“

Keller ging die Frage aber noch grundsätzlicher an und forderte in ihrer Rede, die sich bewusst nicht „nur“ an ihre unmittelbaren Zuhörer_innen richtete, sondern die gesamte Bevölkerung im Auge hatte: „Verweigert allen Verordnungen und Gesetzen sowie Institutionen, die den Frieden schlachten und die Schlächtereien des Krieges fortsetzen, die Zustimmung. Verweigert euch dem Krieg, denn ohne euch können keine Schlachten gekämpft werden. Verwehrt euch gegen die Herstellung von Granaten und Gasbomben und alle anderen Werkzeuge des Mordens. Verweigert euch dieser Pflicht, denn sie bedeutet Tod und Elend für Millionen von Menschen. Seid nicht dumme, gehorsame Sklaven in einer Armee der Vernichtung. Werdet Helden in einer Armee des Aufbaus.“

Dieser Friede ist (noch) keine Erlösung

Helen Keller ruft zwar gegen Krieg und für Frieden auf, wünscht sich aber selbst für Friedenszeiten grundlegende gesellschaftliche Änderungen, so dass Ursachen für Kriege gar nicht erst entstehen sollten. „Wir sind nicht frei, es sei denn, die Menschen - jene, die die Gesetze machen, und jene, die die Gesetze vollziehen - sind die Repräsentanten der Interessen für die Lebensbedingungen der Menschen und nicht anderer Interessen. Der Stimmzettel rettet einen freien Menschen nicht vor der Lohnsklaverei. Außerdem hat eine wahrhaft freie und demokratische Nation in der Welt noch nie existiert. Seit uralten, undenklichen Zeiten sind Menschen loyal den starken Männern, die über die Macht des Geldes und der militärischen Gewalt verfügten, blindlings gefolgt. Während sich noch auf den Schlachtfeldern die eigenen Toten turmhoch stapelten, haben sie die eroberten Ländereien von deren Regierenden übernommen und ihnen die Früchte ihrer Arbeit geraubt. Sie haben zwar Paläste und Pyramiden, Tempel und Kathedralen gebaut, jedoch keinen wirklichen Schrein der Freiheit errichtet.“

Aber selbst der Friede 1918 nach diesem großen Krieg trägt mit seinen Hungersnöten und anderen physischen und nicht zuletzt psychischen Folgen für Millionen von Menschen den Keim für den nächsten nur knapp 20 Jahre späteren und noch folgenschwereren in sich. So schieb Wilhelm Jerusalem am 8. Februar 1920, an Helen Keller: „Der Krieg ist aus, aber dieser Frieden ist keine Erlösung!“

Das Festival läuft bis 19. Mai 2018, Programm und Infos gibt es hier

Follow @kikuheinz ( kurier.at , kiku-heinz ) Erstellt am 16.05.2018